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Freigesprochen
nach Ödön von Horvath

Fotos: Benjamin Schmidt
DAS GESCHEHEN IM STÜCK
Eine mittelgroße Ortschaft im Alpenvorland, Mitte der 1930er Jahre. Das Wirthaus, die Kirche, der Bahnhof. Eine scheinbare Normalität voller sozialer Zwänge und Umtriebe. Der Bahnhofsvorsteher ist beliebt, der Apotheker wird boykottiert, er und seine Schwester sind “verhasst”.
Dann die Katastrophe: Ein Schnellzug rast in einen Güterzug, es gibt Tote und Verletzte.
Irgendwas ist schiefgelaufen am Bahnhof. Wurde das Signal rechtzeitig auf Rot gestellt oder nicht? Zeugen werden vernommen. Der verantwortliche Fahrdienstleiter Hudetz sagt aus, “daß er noch nie ein Signal verpasst hat”. Hat seine Frau gesehen, was genau vorgefallen ist? Vorerst schweigt sie. Das Dorf steht Kopf: “Unser Hudetz” kann und darf nicht schuld sein. Die junge Wirtstochter Anna meldet sich plötzlich als Zeugin, leistet sogar einen Eid vor Gericht. Der Bahnhofsvorsteher wird “freigesprochen”, das Dorf feiert ihn als Helden. Die Wahrheit interessiert fast niemand. Wer Einwände hat, wird an den Pranger gestellt. Pogrom und Lynchjustiz sind zum Greifen nahe. Aber das Eis der Lügen und Verdrängungen ist dünn. Ein Mord geschieht und wieder verschiebt und dreht sich alles.

DIE AKTUALITÄT
“Die Wahrheit liegt woanders”, diesen Satz legt Horvath seinen Figuren immer wieder in den Mund. Die Figuren begreifen den Satz selber oft gar nicht, sie wiederholen ihn subjektiv als Floskel. Im Hintergrund weist Horvath den Zuschauer darauf hin, nach der Wahrheit zu fragen.
Horvaths sezierender Blick ist immer noch brandaktuell: Wahrheitsverdrehung, Haßbotschaften haben heute auch wieder Hochkonjunktur.
Neben der Frage, wer nun an dem Bahnunglück schuld oder nichtschuld ist, erzählt Horvath, wie die dörfliche “Volksgemeinschaft”-gefüttert mit Falschinformationen, den “alternativen Wahrheiten”- ihre „Meinung“ bildet und was das für Auswirkungen hat.
Die Arbeiten an dem Stück begannen in der Corona-Zeit mit Online- Sitzungen, um die Angebote des Theater-Apropos weiterzuführen.

DIE ARBEIT AM STÜCK
Trotz der Schwierigkeiten war es eine sehr produktive Phase. Es wurden in den Sessions gemeinsam alle Personen und Entwicklungen des Stückes im Originaltext erforscht und von den Teilnehmern der Gruppe wechselweise vorgelesen, noch ohne eine genaue Festlegung von Rollen. So hatte jeder Mitspieler die Möglichkeit, Einblicke in das ganze Stück zu gewinnen und Erfahrungen mit einzelnen Figuren und ihren Eigenschaften, Hintergründen und Entwicklungen zu machen, eigene Erfahrungen und Fragestellungen miteinzubringen. Auch die Anspielungen, die sich im Text auf den Hintergrund der NS-Diktatur beziehen, wurden oft diskutiert.
Der Originaltext wurde dann in Zusammenarbeit mit Dramaturgin Barabara Altmann für das Theater Apropos verdichtet und gekürzt. Ebenso wurde die große Personenzahl reduziert und der Schluß überarbeitet: Im Original thematisiert Horvath die “Ursünde” von Adam und Eva, das Paradies und die Totenwelt. Das erschien uns schwülstig und realitätsfern und wir haben diese Aspekte weggelassen.
Deswegen auch die Titeländerung unserer Version des Stoffes: “Freigesprochen” (ein Titel, den Horvath selbst auch erwogen hatte) statt “Der jüngste Tag”.
GESTERN UND HEUTE
Das inklusive Theater im Tams und das Grenzgänger-Festival
Anfang der 1980er etablierte sich im TamS ein weiteres neues Format, mit neuen Akteuren und neuem Anspruch, das bis heute kontinuierlich weiterentwickelt wurde. In der Alltagssprache hat es mittlerweile unter dem Begriff „Inklusives Theater“ seine offizielle Bezeichnung gefunden. Im TamS begann dieses neue Theaterzeitalter mit der „Nachricht vom Grottenolm“ sowie dem „Crüppel Cabaret“, initiiert von Peter Radtke, bis 2016 Mitglied des Deutschen Ethikrats. Stars der Cabaret-Abende waren Menschen mit Behinderungen und ihre unterschiedlichen Darbietungen, von „kosmetischer Integration“ bis zur „Rollstuhlmodenschau“. 1998 bildete sich dann in Zusammenarbeit mit dem „Verein zur Hilfe für Alterskranke und seelisch Kranke“ das Theater Apropos. Die Leitung übernahm Anette Spola zusammen mit Rudolf Vogel. Das Ensemble wird seit 2014 von Komponist, Musiker und Regisseur Anton Prestele und ab 2019 in Kooperation mit Burchard Dabinnus geleitet. Oft schon waren einzelne Spieler des Ensembles in Inszenierungen mit professionellem Anspruch integriert.
Mit dem zweiwöchigen Festival Grenzgänger wurde darüber hinaus ein seit 2009 jährlich stattfindendes Festival mit inklusivem Theater etabliert. Während des Festivals kommen internationale und renommierte Gruppen zusammen, wie Die Tonne, Reutlingen, das Theater HORA Zürich oder Thikwa aus Berlin. Oft mit dabei sind Theater anderer Kontinente, so in 2018 die Unmute Dance Company aus Kapstadt.
